Pulverfass Taiwan

Veröffentlichung - 2024 / 03


Die Volksrepublik China beansprucht Taiwan für sich. Peking macht kein Geheimnis daraus, die Inselrepublik notfalls zu annektieren. Der Konflikt in Fernost birgt die Gefahr, eine weitere globale Wirtschaftskrise auszulösen. Was sind die Hintergründe und welche Konsequenzen hätte ein solches Szenario?

Nach den Worten des Generalsekretärs der Kommunistischen Partei Chinas Xi Jinping widerspricht ein unabhängiges Taiwan der Geschichte. Und Chinesen sollten nicht gegen ihre chinesischen Brüder kämpfen. Daher will Xi alles für eine, wie er es nennt, friedliche Wiedervereinigung Taiwans mit dem Mutterland tun. Gleichzeitig gibt er jedoch ausdrücklich kein Versprechen ab, dabei auf Gewalt zu verzichten.

Ost versus West

In diesem Konflikt geht es um weit mehr als die unbeirrbaren Ambitionen eines Machthabers in Richtung einer nicht legitimierten territorialen Machtausdehnung der größeren und stärkeren Nation zulasten einer kleineren und schwächeren. Hierbei stehen sich seit Jahrzehnten zwei Ideologien diametral gegenüber. Diese Dauerkonfrontation hat sich mit der Zeit zu einem Systemwettstreit Autokratie gegen demokratische Werte, Ost gegen West ausgedehnt.

Neben Menschenrechtsverletzungen sowie Chinas stillschweigender Unterstützung des russischen Angriffskriegs in der Ukraine trägt die Taiwan-Frage wesentlich dazu bei, dass die Beziehungen zwischen China und den Vereinigten Staaten auf dem tiefsten Punkt seit Jahrzehnten sind. Sollte Xi Jinping ernst machen, und Taiwan überfallen, und sollten die USA ihre Zusage einhalten, die Angegriffenen auch militärisch zu unterstützen, stünden sich zwei Atommächte in einer feindlichen Auseinandersetzung direkt gegenüber.

Die freieste Nation Asiens

Auch für Taiwan, das sich in der jüngeren Vergangenheit zu einer funktionierenden, lebhaften Demokratie und der freiesten Nation Asiens entwickelt hat, steht viel auf dem Spiel. Mit dem Verlust seiner Souveränität und Freiheit an Peking droht dem Archipel dasselbe Schicksal wie zuvor der Sonderverwaltungszone Hongkong.

China wertet eine etwaige Unabhängigkeitserklärung seitens Taiwans als Separatismus und sieht darin einen veritablen Kriegsgrund. Taipeh fühlt sich von Peking bedroht, strebt jedoch dem Programm der Regierungspartei DPP zufolge keine formelle Unabhängigkeit an. Der Anfang dieses Jahres gewählte Präsident Taiwans, China-Kritiker Lai Ching-te, vertritt die Parteilinie, nach der Taiwan de facto unabhängig ist. Demnach genügt es Lai, den Status quo zu wahren: dass sich Taiwan demokratisch selbst regiert und u. a. über eine eigene Währung verfügt. Lais ablehnende Haltung gegenüber Festland-China beruht auf Gegenseitigkeit. Peking seinerseits lehnt Lai vehement ab und hatte die Abstimmung Anfang dieses Jahres noch im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen auf der Insel als Wahl zwischen Krieg und Frieden bezeichnet.

Zeitpunkt einer Invasion noch offen

Was Xis Wiedervereinigungspläne angeht, ist die Frage nach dem Wann offen. Wer aktuell versucht, einen möglichen Zeitpunkt für eine chinesische Invasion zu antizipieren, orientiert sich an folgenden Eckpfeilern: Spätestens 2049, wenn die VR China ihre Feierlichkeiten zum 100-jährigen Bestehen begehen wird, soll Taiwan im Rahmen der „Nationalen Verjüngung“ unter allen Umständen an China angeschlossen sein. In gut zehn Jahren will Xi darüber hinaus die USA in allen wichtigen Bereichen – wirtschaftlich, technologisch und militärisch – von ihrem Spitzenplatz verdrängt haben. Doch bei Taiwan könnte alles noch viel schneller gehen. 2027 feiert die Volksrepublik mit „100 Jahre Volksbefreiungsarmee“ eines ihrer bedeutendsten Jubiläen.

Historischer Rückblick

Nachdem seine Kommunisten das Militär der Republik China besiegt hatten, ruft Mao Zedong am 1. Oktober 1949 die Volksrepublik China aus und markiert damit das Ende des Chinesischen Bürgerkriegs. Zahlreiche Vertreter und Anhänger der Republik, die sich nicht geschlagen geben wollen, fliehen auf die dem Festland vorgelagerte Insel Taiwan. Seiher gibt es zwei chinesische Staaten, die kommunistische Volksrepublik China und die Republik China. Letztere heißt offiziell heute noch so, ist jedoch international unter dem Namen der Insel bekannt – Taiwan.

Zwar kam Taiwan Ende des 17. Jahrhunderts unter die Kontrolle von Festland-China und erhielt Ende des 19. Jahrhunderts erstmals den Status einer chinesischen Provinz. Nach der Niederlage im ersten chinesisch-japanischen Krieg musste China Taiwan jedoch 1895 an Japan abtreten, bis dieses wiederum den Zweiten Weltkrieg verlor. Festzuhalten ist: Taiwan war zu keinem Zeitpunkt offiziell Teil der 1949 gegründeten Volksrepublik.

Parallelen zur Ukraine

Die Situation zwischen Taiwan und der VR China weist Parallelen zu jener zwischen Russland und der Ukraine auf, bevor Präsident Putin am 24. Februar 2022 den Einmarschbefehl gab. Auch hier hat eine größere Nation den Plan gefasst, eine kleinere zu unterwerfen und territoriale Grenzen zu verschieben. Beide Parteien verfolgen den Kriegsverlauf in der Ukraine mit Argusaugen, um jeweils zentrale strategische Entscheidungen zu treffen. Xi Jinping beobachtet genau, wie einig sich die westlichen Mächte in puncto Solidarität und Unterstützung Kiews gegen einen mächtigen Erzrivalen verhalten. Daran kann er bemessen, wie viel China eine Invasion in etwa kosten würde. Die Führung Taiwans hingegen erlebt in der Ukraine ein Lehrstück in Sachen erfolgreicher Selbstverteidigung gegenüber einem sehr viel stärkeren Aggressor.

Der militärische Aspekt

Dass eine der drei mächtigsten Armeen der Welt einen Inselstaat von der Größe der Schweiz noch nicht angegriffen hat, verdeutlicht, dass es Parameter gibt, die den Erfolg einer Militäroperation infrage stellen. Die nationale Verteidigungsstrategie Taiwans muss sich auf sogenannte asymmetrische Fähigkeiten stützen. Sie werden alle Möglichkeiten ausschöpfen, die Kosten für eine Invasion so hochzutreiben, dass ein potenzieller Aggressor davon ablässt.

Zwei weitere Faktoren angesichts dieser realen chinesischen Drohkulisse sind die Unerfahrenheit der Volksbefreiungsarmee – ihr letzter Einsatz war im kurzen Chinesisch-Vietnamesischen Krieg 1979 – und die Verlässlichkeit der US-amerikanischen Unterstützung auf dem Militärsektor. Das chinesische Militär steht mit seinen mehr als drei Millionen Soldatinnen und Soldaten auf Platz Drei im Ranking der stärksten Armeen der Welt. Seine tatsächliche Schlagkraft jedoch ist ungewiss, da es in der jüngeren Vergangenheit lediglich an Manövern und größeren Übungen beteiligt war. In diesem Zusammenhang wird der Ausgang der im November 2024 anstehenden Präsidentschaftswahlen in den USA aufmerksam verfolgt. Während Präsident Joe Biden Taiwan Unterstützung zusichert, äußert sich ein potenzieller 47. US-Präsident Donald Trump gegenüber Taiwan eher gleichgültig.

Der wirtschaftliche Aspekt

Sollte es Taiwan gelingen, China militärisch von einer Invasion abzuschrecken, bleiben der Volksrepublik immer noch andere Möglichkeiten, Druck auszuüben. Etwa durch wirtschaftliche Sanktionen oder eine Seeblockade. Doch ökonomisch genießt Taiwan wegen der dort ansässigen führenden Halbleiterindustrie (TSMC) internationale Systemrelevanz. Der Chiphersteller produziert allein über 80 Prozent der weltweit fortschrittlichsten Mikrochips. Sollte China sich für eine Blockade Taiwans entscheiden, müsste es internationale Sanktionen fürchten. Diese träfen dann auf eine schwächelnde chinesische Wirtschaft, die unter der geringen globalen Nachfrage, dem kriselnden Immobilienmarkt und dem spärlichen Binnenkonsum leidet. Eine Seeblockade würde auch Chinas eigene Versorgung und seinen Export gefährden.

Geriete Taiwan als Produzent der wichtigsten Mikrochips der Welt in ernsthafte Schwierigkeiten, würde die Weltwirtschaft um 20 Jahre zurückversetzt. Arbeitsplätze gingen verloren und Volkswirtschaften brächen zusammen. Wäre Taiwan heute wirtschaftlich und politisch isoliert, stünde allein und schutzlos im Pazifischen Ozean, würde Xis Volksbefreiungsarmee morgen versuchen, Taipeh einzunehmen. Doch das Szenario eines Dritten Weltkriegs hat eine abschrecke Wirkung und Taiwan baut auf den Schutz der gleichgesinnten westlichen Demokratien. Das funktioniert nur, solange diese die autoritären Länder daran hindern, sich weiter auszudehnen.

(Inhouse Text)

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